Ideen von Isaiah Berlin und Robert Musil
In seinem hervorragenden Buch „Das Globalisierungsparadox“ verweist Dani Rodrik auf den Essay von Isaiah Berlin „Der Igel und der Fuchs“, in welchem er zwischen zwei Richtungen von Denkern unterscheidet und sich auf ein Fragment des antiken griechischen Philosophen Archilochos bezieht: „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß ein großes Ding.“ Die Gruppe der Igel-Denker haben eine große Theorie, eine alles einschließende Weltsicht oder eine Methode, mit welcher sie den Lauf der Dinge erklären können. Die Gruppe der Fuchs-Denker ist skeptisch gegenüber allen großen Erklärungen und Verallgemeinerungen – dafür ist die Welt zu komplex und außerdem ist ein Modell oder eine Theorie ein geistiges Produkt, welches nicht die Wirklichkeit wiedergibt. Bei I. Berlin ging es vor allem um die Deutung historischer Ereignisse sowie um ökonomische oder andere sozialwissenschaftliche Erklärungen. Er schlägt sich mit Tolstoi nicht auf eine Seite der widerstreitenden Positionen, für ihn ist „die Wirklichkeit in ihrer Vielfalt, als eine Sammlung von getrennten Gegebenheiten“(51) wahrzunehmen. Vielleicht ist dann „ein großes, einheitliches Ganzes“ (ebd.) zu sehen.
Aber es stellt sich auch die Frage, ob und welchen Zugang es zur Wirklichkeit gibt? Oder gibt es gar einen Wirklichkeitssinn?
Matthew B. Crawford setzt sich in unserer Zeit mit dem Problem auseinander, wie ein Zugang zur Wirklichkeit möglich bzw. wie sie wiederzugewinnen ist. Denn heute ist Wirklichkeit besonders durch eine „Krise der Aufmerksamkeit“ verstellt1. Permanent dringen auf den postmodernen Menschen neue Möglichkeiten, Aufforderungen und Erwartungen ein, so dass ein Zugang zu den Dingen und schließlich auch zur Person selbst in einer einer von anderen hergestellten Plastikwelt mit einer beschränkten Zahl vorgegebener Möglichkeiten hängen bleibt.
Robert Musil fragt sich nun, wenn es so etwas wie einen Wirklichkeitssinn gibt, dann müsste es doch auch einen „Möglichkeitssinn“2 geben. „So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. … Das Mögliche umfasst jedoch nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes.“ Der Sinn für das Mögliche enthält „einen bewussten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt.“ „Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeit weckt“. Wer nun Sinn für das Mögliche hat, sieht neue Dinge, bevor sie eine von niemanden mehr zu bestreitende Bedeutung haben.
Kehren wir zum Ausgangspunkt der aufeinanderprallenden Weltsichten zurück. So wäre es doch spannend nachzuforschen, ob es gelingt, trotz des Streits über das, was wirklich ist, sich zu einigen über das, was möglich ist und getan werden muss. Dazu möchte ich einen Gedanken von Amartya Sen adaptieren. In seinem Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ schreibt er, dass man sich nur schwer über über das (formale) Ideal, die richtige Idee der Gerechtigkeit einigen kann, dagegen einigt man sich viel leichter ein bestimmtes unerträgliches Übel schnellstmöglich zu beseitigten. Entsprechend wäre es zuweilen hilfreich, auf das wünschbare Mögliche zu schauen, anstelle die eigenen Sichtweisen und Deutungen zu überhöhen. Schaut man nun auf die fundamentalen Krisen unserer Zeit, dann erkennt man, dass wir bspw. nicht auf die letzte Prognose von Klimamodellen warten müssen, da die zerstörerischen Auswirkungen unseres Wirtschafts- und Lebensstils schon jetzt offensichtlich sind. Die eigenen Möglichkeiten, es anders zu machen, dürften für jeden selbst unschwer zu erkennen sein. Nach jedem Schritt verändert und weitet sich ein wenig der Horizont.
Schöner formuliert die Spanne von Wirklichkeit und Möglichkeit ein Gedicht von Seamus Heaney, welches A. Sen3 zitiert:
Die Geschichte sagt, Hoffe nichts
Diesseits des Grabes,
Aber dann, einmal im Leben,
Kann die lang ersehnte Flutwelle
Der Gerechtigkeit steigen
Und Hoffnung und Historie reimen.
Dieser Wirtschafts-Ethik-ZukunftsBlog will entlang der Spannbreite zwischen dem, was heute wirklich ist, aber auch anders sein könnte, vermeintliche Wirklichkeiten in Frage stellen und erkunden, was zukunftstauglich ist. Neben Hintergründen, verschiedenen Positionen und Zugängen zu einer Thematik sollen auch Treffen und Veranstaltungen in der Katholischen Akademie in Frankfurt begleitet werden.
1Matthew B. Crawford, Die Wiedergewinnung der Wirklichkeit. Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung, Berlin 2016. Ders., ich schraube also bin ich. Vom Glück, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen, Berlin 42015.
2Musil, Robert, 1987: Der Mann ohne Eigenschaften, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg, Bd.1, 16f.
3Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, Bonn 2010, 55.